Die Erbin und ihr geliebter Verräter

Die Erbin und ihr geliebter Verräter

Erscheinungsdatum: 8 März 2014
Originaltitel: „The Heiress Effect
2. in der Serie „Geliebte Widersacher“

Miss Jane Fairfield kann nichts richtig machen. Wenn sie in Gesellschaft ist, sagt sie unweigerlich das Falsche – und davon meist auch zu viel. Und gleichgültig, wie teuer ihre Kleider sind, sie sind nicht wirklich modisch. Selbst ihre enorme Mitgift kann nicht verhindern, dass man sich über sie lustig macht. Und das ist genau das, was sie will. Sie tut alles, nimmt selbst Demütigungen in Kauf, wenn das bedeutet, dass sie unverheiratet bleibt – und über ihre Schwester wachen kann.

Mr. Oliver Marshall muss alles richtig machen. Er ist der uneheliche Sohn eines Herzogs und stammt aus einfachen Verhältnissen. Er ist aber entschlossen, dem einfachen Volk zu einer Stimme zu verhelfen. Wenn er einen falschen Schritt macht, erhält er vielleicht nie die Gelegenheit, irgendetwas zu erreichen. Bestimmt muss er nicht ausgerechnet der Frau, die völlig falsch für ihn ist, zu Hilfe kommen. Und ganz bestimmt muss er sich nicht auch noch in sie verlieben. Aber Jane hat etwas an sich, dem er nicht widerstehen kann … auch wenn es ihrer beider Ruin bedeuten würde.

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„Wenn ich [Milans] Bücher lese, weiß ich, dass nicht nur etwas Gutes auf mich zukommt, sondern etwas Hervorragendes, Außergewöhnliches und Tiefgründiges.“

—Sarah Wendell, Smart Bitches, Trashy Books

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Cambridgeshire, England, 1867

Die meisten Zahlen, denen Miss Jane Victoria Fairfield im Laufe ihres Lebens begegnet war, hatten sich als harmlos erwiesen. Zum Beispiel hatte die Schneiderin, die gerade ihr Kleid absteckte, sie siebenmal gestochen, während sie die dreiundvierzig Stecknadeln anbrachte – aber der Schmerz war rasch vergangen. Die zwölf Löcher in Janes Korsett waren ein Übel, sicher, aber ein notwendiges, denn ohne sie wäre es ihr nie gelungen, ihre Taille von unmodischen siebenunddreißig Zoll auf eine Weite von immer noch unmodischen dreiunddreißig Zoll zu schnüren.

Zwei war auch keine so schreckliche Ziffer, selbst wenn sie für die Anzahl von Johnson-Schwestern stand, die zuschauten, wie die Näherin das Kleid ihrer alles andere als modischen Figur anpasste.

Nicht einmal, wenn besagte Schwestern in der vergangenen halben Stunde nicht weniger als sechsmal gekichert hatten. Diese Zahlen waren lästig – allerdings nicht mehr als Fliegen, die man mit einer Bewegung des goldverzierten Fächers verscheuchen konnte.

Nein, für Janes Probleme konnte man zwei Zahlen die alleinige Schuld geben. Einhunderttausend war die eine davon, und die war pures Gift.

Jane holte so tief Luft, wie es ihr Korsett zuließ, und wandte den Kopf zu Miss Geraldine und Miss Genevieve Johnson. Die beiden jungen Damen konnten in den Augen der guten Gesellschaft nichts falsch machen. Sie trugen fast identische Tageskleider – das eine aus blassblauem Musselin, das andere aus lindgrünem. Sie bewegten ihre nahezu identischen Fächer, die mit Szenen ländlichen Müßiggangs bemalt waren, im Takt. Sie waren beide auf die klischeehafteste, puppenartigste Weise schön: porzellanblaue Augen und blonde Haare, die in schimmernden Locken ihre Gesichter umrahmten. Ihre Taillenweite lag etwas unter zwanzig Zoll. Der einzige Weg, die beiden Schwestern voneinander zu unterscheiden, bestand darin, dass Geraldine Johnson ein perfekt geformtes und ebenso perfekt platziertes Muttermal auf der rechten Wange hatte, während es sich bei ihrer Schwester in der gleichen Vollkommenheit auf der linken befand.

Sie waren in den ersten Wochen ihrer Bekanntschaft zu Jane freundlich gewesen.

Sie vermutete, sie waren wirklich nett, wenn man sie nicht bis aufs Blut reizte. Jane hatte, wie es sich herausstellte, ein Talent dafür, selbst die charmantesten jungen Damen zu Herzlosigkeit zu treiben.

Die Schneiderin steckte eine letzte Nadel fest. „So“, sagte sie. „Werfen Sie bitte einen Blick in den Spiegel und lassen Sie es mich wissen, wenn ich etwas ändern soll – die Spitze an einer anderen Stelle platzieren oder vielleicht einfach weniger davon verwenden.“

Die arme Mrs. Sandeston. Sie hatte diese Worte ausgesprochen wie ein Mann, der dazu verurteilt war, noch am gleichen Nachmittag gehängt zu werden, über das Wetter des nächsten Tages reden würde – wehmütig, als ob die Vorstellung von weniger Spitze ein Luxus wäre, etwas, was höchstens als außergewöhnlicher und unwahrscheinlicher Gnadenakt kommen konnte.

Jane trippelte nach vorne zum Spiegel und ließ ihr neues Kleid auf sich wirken. Sie musste nicht so tun, als lächelte sie – ihre Gesichtsmuskeln verzogen sich wie von selbst zu einem hingerissenen Lächeln. Himmel, das Kleid war schrecklich. So furchtbar schrecklich. Nie zuvor war so viel Geld für so wenig Geschmack ausgegeben worden. Erfreut warf sie sich einen verführerischen Blick zu, und ihr Spiegelbild flirtete zurück, dunkelhaarig, dunkeläugig, kokett und geheimnisvoll.

„Was meinen die Damen?“, fragte sie und drehte sich zu ihnen um. „Sollte es nicht noch ein wenig mehr Spitze sein?“

Der schwer geprüften Mrs. Sandeston zu Janes Füßen entwich ein leises Wimmern.

Berechtigterweise. Das Kleid zierten bereits in verschwenderischer Fülle drei verschiedene Sorten Spitze. Dicke Wellen aus blauem Point-de-Gaze waren Meter um anstößig teuren Meter um den Rock gewunden. Ein zartes Stück Duchessespitze aus Belgien säumte das Dekolleté, und die Schlitze in den Ärmeln waren mit schwarzer Chantillyspitze in einem üppigen Blumenmuster unterfüttert. Der Stoff war wunderschön gemusterte Seide – nicht, dass ihn irgendwer unter dem Ballast an Besatz würde erkennen können.

Dieses Kleid war eine Scheußlichkeit in Spitze. Jane fand es wunderbar.

Eine echte Freundin, dachte sie, hätte ihr geraten, auf die Spitze zu verzichten, und zwar komplett.

Genevieve nickte. „Ja, eindeutig mehr. Ich finde entschieden, dass da noch Spitze fehlt. Vielleicht eine vierte Sorte?“

Gütiger Himmel. Wo da noch Platz für mehr Verzierungen sein sollte, wusste sie nicht.

„Was ist mit einer Schärpe aus Spitze?“, schlug Genevieve vor.

Es war eine seltsame Freundschaft, die sie mit den Johnson-Zwillingen verband. Die beiden waren für ihren unfehlbar guten Geschmack bekannt. Daher unterließen sie es nie, Jane in die falsche Richtung zu steuern. Aber das taten sie so liebenswürdig, dass es beinahe Spaß machte, von ihnen ausgelacht zu werden.

Da Jane in die falsche Richtung gelenkt werden wollte, hieß sie ihre Bemühungen aus ganzem Herzen willkommen.

Sie erzählten ihr Lügen genau wie sie ihnen. Da Jane der Lächerlichkeit preisgegeben werden wollte, funktionierte es für alle Beteiligten ganz wunderbar.

Manchmal fragte sie sich allerdings, wie es wohl wäre, wenn sie je aufrichtig zueinander wären. Wenn die Johnson-Zwillinge echte Freundinnen wären statt liebenswürdig-höfliche Feindinnen.

Geraldine musterte Janes Kleid und nickte bekräftigend. „Ich unterstütze den Vorschlag mit der Spitzenschärpe uneingeschränkt. Der würde diesem Kleid einen Anstrich von Würde verleihen, der ihm momentan noch fehlt.“

Mrs. Sandeston machte ein ersticktes Geräusch.

Nur selten fragte sich Jane, ob sie echte Freundinnen hätten werden können. Aber gewöhnlich fielen ihr nur allzu schnell die Gründe wieder ein, weswegen sie keine echten Freundinnen haben konnte. Alle einhunderttausend.

Daher nickte sie nur zu den schrecklichen Vorschlägen der Johnsons. „Was halten Sie beide von der schicken Malteser Klöppelspitze, die wir uns vorhin angesehen haben? Die goldfarbene mit den Rosetten?“

„Unbedingt“, stimmte Geraldine ihr zu und nickte. „Die muss es sein.“

Die Schwestern warfen einander über ihre Fächer hinweg Blicke zu – und lächelten einander verschwörerisch an, sagten damit so klar, als hätten sie es ausgesprochen: Lass uns sehen, zu welchen Scheußlichkeiten wir die Feather-Erbin heute verleiten können.

„Miss Fairfield.“ Mrs. Sandeston legte die Hände aneinander, ahmte unbewusst die Geste des Betens nach. „Ich flehe Sie an. Berücksichtigen Sie doch bitte, dass man einen wesentlich eleganteren Effekt erzielen kann, indem man weniger Verzierungen wählt. Eine schöne Spitze kann die Krönung eines hübschen Kleides sein, bestechend in ihrer Schlichtheit. Zu viel hingegen …“ Sie brach ab, machte eine vielsagende Handbewegung.

„Zu wenig“, entgegnete Genevieve ruhig, „und niemand wird ahnen, was Sie zu bieten haben. Geraldine und ich – nun, wir haben jede lächerliche zehntausend Pfund, und unsere Kleider müssen das widerspiegeln.“

Geraldine umfasste ihren Fächer fester. „Leider“, merkte sie an.

„Aber Sie, Miss Fairfield, Sie haben eine Mitgift von einhunderttausend Pfund. Sie müssen sichergehen, dass die Leute das auch wissen. Und nichts spricht so klar von Reichtum wie Spitze.“

„Und nichts ist ein so deutlicher Hinweis auf Spitze wie mehr Spitze“, fügte Geraldine hinzu.

Sie wechselten wieder einen Blick.

Jane lächelte. „Danke“, sagte sie. „Ich weiß gar nicht, was ich ohne Sie beide anfangen würde. Sie sind so gut und freundlich zu mir gewesen, und ich habe so viel von Ihnen gelernt. Ich habe keine Ahnung, was modisch ist, ganz zu schweigen davon, welche Botschaft meine Kleidung aussendet. Wer weiß schon, welche schlimmen Fehlgriffe ich mir leisten würde, wenn ich Sie nicht hätte, um mich anzuleiten?“

Mrs. Sandeston machte ein ersticktes Geräusch, blieb aber stumm.

Einhunderttausend Pfund. Einer der Gründe, weswegen Jane hier war und diese beiden hübschen jungen Damen dabei beobachtete, wie sie listig lächelten und sich dabei einbildeten, Jane verstünde nicht, was das hieß. Sie steckten die Köpfe zusammen und flüsterten – den Mund sittsam hinter dem Fächer verborgen – und brachen dann nach einem Blick auf sie gemeinsam in Gekicher aus. Sie hielten sie für eine Witzfigur, ohne Geschmack, Verstand und Vernunft.

Es tat nicht weh, kein bisschen.

Es tat nicht weh zu wissen, dass sie sie ins Gesicht Freundin nannten und sich dann daran machten, allen, die sie trafen, zu erzählen, was sie wieder Dummes getan hatte. Es tat nicht weh, dass sie sie zu mehr anstifteten – mehr Spitze, mehr Schmuck, mehr Perlenstickerei – einfach nur, um ihren Spaß haben. Es tat nicht weh, dass ganz Cambridge über sie lachte.

Es durfte nicht wehtun. Schließlich war es das, was Jane sich selbst ausgesucht hatte.

Sie lächelte sie an, als sei ihr Gekicher ein aufrichtiges Zeichen ihrer Freundschaft. „Dann also die aus Malta.“

Einhunderttausend Pfund. Es gab Dinge, die eine schwerere Bürde waren als einhunderttausend Pfund.

„Sie wollen das Kleid doch sicher nächsten Mittwoch tragen“, schlug Geraldine vor. „Sie sind zu dem Dinner des Marquis of Bradenton eingeladen, nicht wahr? Wir haben darauf bestanden.“ Die Fächer wurden gehoben und wieder gesenkt, hoch und runter.

Jane lächelte. „Natürlich. Ich würde das um nichts in der Welt missen wollen.“

„Es wird dort auch ein neues Gesicht für Sie zu sehen sein, der Sohn eines Herzogs. Zwar leider ein unehelicher, aber er wird trotzdem überall empfangen. Beinahe so gut wie ein echter Herzogssohn.“

Verdammt. Jane hasste es, neue Männer kennenzulernen, und der Bastard eines Herzogs klang nach der allergefährlichsten Sorte. Er würde sich auf seine Person und Abstammung etwas einbilden und nichts auf seine chronisch leere Brieftasche geben. Das war genau die Sorte Mann, die nur von Janes hunderttausend Pfund hören musste, um zu dem Schluss zu kommen, dass man Janes vor Spitze überquellende Kleider übersehen könnte. Ein Mann von dieser Sorte würde über Unmengen Fehler hinwegsehen, wenn dadurch nur ihre Mitgift auf seinem Bankkonto landete.

„Oh?“, bemerkte sie unverbindlich.

„Mr. Oliver Marshall“, erklärte Genevieve. „Ich habe ihn auf der Straße gesehen. Er …“

Ihre Schwester stieß sie sanft an, und Genevieve räusperte sich.

„Ich meine, er sieht sehr elegant aus. Seine Brille ist überaus distinguiert. Und seine Haare sind sehr … glänzend und … kupferfarben.“

Jane konnte sich dieses Exemplar verhinderter Herzöglichkeit bildhaft vorstellen. Ein untersetzter Mann in albernen Westen mit einer Taschenuhr, die er ständig zu Rate zog. Außerdem war er bestimmt stolz auf seine Vorurteile und verbittert über das Schicksal, das dafür verantwortlich war, dass er außerehelich geboren war.

„Er wäre einfach perfekt für Sie, Jane“, sagte Geraldine. „Natürlich wird er uns angesichts unserer minderwertigen Mitgift reichlich … uninteressant finden.“

Jane zwang sich zu einem Lächeln. „Ich weiß nicht, was ich ohne Sie beide nur täte“, erklärte sie aufrichtig. „Wenn ich Sie nicht hätte, um mich unter Ihre Fittiche zu nehmen, am Ende würde ich …“

Wenn sie die beiden nicht hätte, die sie lächerlich machten, würde sie am Ende doch noch einen Mann beeindrucken – trotz all ihrer entgegengesetzten Bemühungen. Und das wäre eine Katastrophe.

„Ich habe das Gefühl, dass Sie beide wie Schwestern für mich sind, wenn man bedenkt, wie sehr Sie sich um mich kümmern“, erklärte sie. Vielleicht wie Stiefschwestern in einem schrecklichen Märchen.

„Wir empfinden ganz genauso.“ Geraldine lächelte ihr zu. „Als wären Sie unsere Schwester.“

In diesem Raum gab es fast so viele Lächeln wie Spitze an ihrem Kleid. Jane bat den Himmel stumm um Verzeihung für ihre Lüge.

Diese beiden Frauen waren ganz bestimmt nicht wie ihre Schwester. So etwas zu behaupten war eine Beleidigung für alle Schwestern. Und wenn Jane eines heilig war, dann die Beziehung unter Schwestern. Sie hatte eine Schwester – eine Schwester, für die sie alles tun würde. Für Emily würde sie lügen, betrügen, ein Kleid mit vier verschiedenen Sorten Spitze kaufen …

Einhunderttausend Pfund waren keine so schlimme Bürde. Aber wenn eine junge Frau unverheiratet bleiben wollte – wenn sie bei ihrer Schwester bleiben musste, bis eben diese Schwester volljährig war und aus dem Haus ihres Vormundes ausziehen konnte –, dann wurde genau diese Zahl ein unüberwindliches Hindernis.

Ein beinahe so unüberwindliches wie vierhundertachtzig – die Zahl an Tagen, die Jane unverheiratet bleiben musste.

Vierhundertachtzig Tage dauerte es noch, bis ihre Schwester volljährig wurde. In vierhundertachtzig Tagen konnte ihre Schwester das Haus ihres Vormund verlassen, und Jane – Jane, der es unter der Bedingung, dass sie den erstbesten Mann heiratete, der um ihre Hand anhielt, gestattet war, in diesem Haus zu wohnen – würde all dieses Theater sein lassen können. Sie und Emily wären endlich frei.

Jane würde lächeln, meterweise Spitze tragen und Napoleon Bonaparte persönlich als ihre Schwester bezeichnen, wenn das nur dazu führte, dass Emily in Sicherheit war.

Stattdessen musste sie in den nächsten vierhundertachtzig Tagen nach einem Ehemann Ausschau halten, und das sehr angestrengt, dabei aber keinesfalls heiraten.

Diese beiden Zahlen umschrieben die Mauern ihres Gefängnisses.

Und daher lächelte Jane Geraldine noch einmal an, dankbar für ihren Ratschlag, dankbar, dass sie einmal mehr fehlgeleitet wurde. Sie lächelte und meinte es vollkommen ernst.

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