Der Herzog und seine geliebte Feindin

Der Herzog und seine geliebte Feindin

Erscheinungsdatum: 1 Juni 2013
Originaltitel: „The Duchess War
1. in der Serie „Geliebte Widersacher“

Miss Minerva Lane führt bei ihren Großtanten ein ruhiges und beschauliches Leben als Mauerblümchen – und dabei soll es auch bleiben. Schließlich ist ihr, als sie das letzte Mal im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, übel mitgespielt worden. Sie war sogar gezwungen gewesen, ihren Namen zu ändern, um den Skandal hinter sich zu lassen. Mauerblümchen haben zwar vielleicht nicht die schönsten Blüten, aber wenigstens geraten sie nicht unter die Räder. Als daher ein gut aussehender junger Herzog in die Stadt kommt, ist das Letzte, was sie sich wünscht, seine Aufmerksamkeit.

Aber genau die bekommt sie leider.

Denn Robert Blaisdell, der Duke of Clermont, lässt sich nicht so leicht an der Nase herumführen. Als Minnie herausfindet, was ihn nach Leicester führt, merkt er, dass mehr an ihr ist, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Er ist entschlossen, hinter ihr Geheimnis zu kommen, ehe sie seines aufdeckt. Aber dieses Mal könnte sich eine schüchterne Miss ihm mehr als gewachsen zeigen …

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„Wenn ich [Milans] Bücher lese, weiß ich, dass nicht nur etwas Gutes auf mich zukommt, sondern etwas Hervorragendes, Außergewöhnliches und Tiefgründiges.“

—Sarah Wendell, Smart Bitches, Trashy Books

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Kapitel Eins

Leicester, November 1863

ROBERT BLAISDELL, DER NEUNTE DUKE OF CLERMONT, versteckte sich nicht.

Es stimmte, er hatte sich in die Bibliothek im ersten Stock des alten Zunfthauses zurückgezogen, weit genug von der Menge entfernt, dass der Lärm der Versammlung zu einem entfernten Summen verblasst war. Es stimmte, außer ihm war niemand hier. Und es stimmte ebenfalls, dass er hinter dicken Vorhängen aus blaugrauem Samt stand, die ihn verdeckten. Er hatte auch das schwere Sofa aus braunem Leder verrücken müssen, um hierher zu gelangen.

Aber er hatte das alles nicht getan, um sich zu verstecken, sondern weil – und das war das Hauptargument seiner reichlich fadenscheinigen Logik – sich in diesem jahrhundertealten Bauwerk aus Mörtel, Putz und Holzbalken nur ein Fensterflügel öffnen ließ, und das war ausgerechnet der hinter dem Sofa.

Daher stand er nun hier, den Zigarillo in der Hand, während der Rauch in die kühle Herbstluft aufstieg. Er versteckte sich nicht; es ging einfach darum, die wertvollen alten Bücher vor Rauch zu bewahren.

Er hätte das vielleicht sogar selbst glauben können, wenn er denn tatsächlich geraucht hätte. Aber er hatte den Zigarillo nur angesteckt, ohne tatsächlich daran zu ziehen.

Durch die welligen alten Glasscheiben konnte er die nachgedunkelten Steine der Kirche direkt gegenüber sehen. Das Licht der Straßenlaternen malte stille Schatten auf das Pflaster unten. Ein Stapel Flugblätter war früher gegen die Türen gelehnt gewesen, aber die Herbstböen hatten sie aufgewirbelt und auf der Straße verteilt, in Pfützen geweht.

Er machte alles nur schlimmer. Ein verdammtes Schlamassel. Er lächelte und tippte in der Fensteröffnung auf die Spitze seines unbenutzten Zigarillos, sodass die Asche nach unten auf die Pflastersteine fiel.

Das leise Quietschen einer sich öffnenden Tür riss ihn aus seiner Versunkenheit. Er wandte sich vom Fenster ab, als er dazu auch das Knarzen von Bodendielen hörte. Jemand war die Treppe hochgekommen und hatte den angrenzenden Raum betreten. Die Schritte waren leicht – die einer Frau vielleicht oder eines Kindes. Sie klangen zudem seltsam zögernd. Die meisten Leute, die während eines Musikalischen Abends in die Bibliothek kamen, hatten dafür einen Grund. Ein geheimes Rendezvous vielleicht oder die Suche nach einem Familienmitglied.

Von seinem Platz hinter den Vorhängen konnte Robert nur einen kleinen Ausschnitt der Bibliothek sehen. Wer auch immer die Person war, sie kam näher, stockte jedoch immer wieder. Sie befand sich außerhalb seines Sichtfeldes – irgendwie war er sich sicher, dass es eine Frau war – aber er konnte ihre leisen Schritte hören und wie sie immer wieder stehen blieb, um ihre Umgebung zu mustern.

Sie rief keinen Namen und schien auch nichts Bestimmtes zu suchen. Es klang nicht so, als wolle sie sich mit einem Liebhaber treffen. Stattdessen blieb sie in der Mitte des Raumes, ging dort um etwas herum.

Robert benötigte eine halbe Minute, um zu begreifen, dass er zu lange gewartet hatte, sich zu zeigen. „Ha“, stellte er sich vor zu rufen und hinter den Vorhängen hervorzuspringen. „Ich habe gerade die Stuckverzierung bewundert. Die ist hier erstaunlich kunstvoll aufgetragen, wissen Sie?“

Sie würde ihn für verrückt halten. Und dabei war bislang noch niemand zu diesem Schluss gekommen. So ließ er seinen Zigarillo aus dem Fenster fallen. Trudelnd fiel er zu Boden, und die glühende Spitze leuchtete orange, bis es zischend in einer Pfütze landete und erlosch.

Alles, was er von dem Raum sehen konnte, war ein halbes Regal voller Bücher, die Rückseite des Sofas und einen Tisch daneben, auf dem ein Schachspiel aufgebaut war. Das Spiel war nicht zu Ende. Anhand des wenigen, was er noch über die Regeln wusste, sah es so aus, als gewönne Schwarz. Die Unbekannte kam näher, und Robert presste sich mit dem Rücken gegen das Fenster.

Sie trat in sein Sichtfeld.

Sie war keine der jungen Damen, die er vorhin in dem überfüllten Saal unten gesehen hatte. Das waren alles echte Schönheiten gewesen, die hofften, ihm aufzufallen. Und sie – wer auch immer sie nun sein mochte – war keine Schönheit. Ihr dunkles Haar hatte sie zu einem strengen Knoten im Nacken aufgesteckt. Ihre Lippen waren schmal und ihre Nase spitz und außerdem ein bisschen zu lang. Sie trug ein dunkelblaues Kleid mit elfenbeinfarbenen Paspeln, ohne Spitze, ohne Bänder, einfach nur Stoff. Selbst der Schnitt ihres Kleides war eher nüchtern: die Taille so fest geschnürt, dass er sich fragte, wie sie überhaupt atmen konnte, und die Ärmel verliefen ganz gerade von ihren Schultern zu ihren Handgelenken, ohne Stofffalten, um die Linie weicher erscheinen zu lassen.

Sie sah Robert nicht hinter dem Vorhang stehen. Sie hielt den Kopf schief und betrachtete das Schachbrett wie ein Mitglied der Abstinenzbewegung eine Kiste Brandy anschauen würde: Als sei es ein Übel, das durch Lieder und Gebete mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden müsse. Und falls das versagte, auch durch Gesetze.

Sie machte einen zögernden Schritt vor, dann noch einen. Mit einer Hand fasste sie in den Seidenbeutel, der an ihrem anderen Handgelenk baumelte, und holte eine Brille hervor.

Mit den Gläsern vor den Augen hätte sie eigentlich noch strenger aussehen müssen, aber sobald sie sie aufsetzte, wurde ihr Blick weich.

Er hatte sich geirrt. Ihre Augen hatte sie nicht verächtlich zusammengekniffen, sondern sie hatte versucht, besser sehen zu können. Es war keine Strenge, die er in ihrem Blick sah, sondern etwas anderes, was er nicht richtig erkennen konnte. Sie streckte die Hand aus und nahm einen schwarzen Springer hoch, drehte und wendete ihn, betrachtete ihn von allen Seiten. Er konnte sich nicht denken, was an der Spielfigur solch konzentriertes Interesse rechtfertigte. Sie war aus massivem Holz und nicht sonderlich kunstfertig geschnitzt. Dennoch musterte sie sie fasziniert und mit leuchtenden Augen.

Und dann hob sie sie unerklärlicherweise an die Lippen und küsste sie.

Robert verfolgte das in erstarrtem Schweigen. Er hatte fast das Gefühl, als beobachtete er ein Stelldichein zwischen einer Frau und ihrem Geliebten. Das hier war eine Frau, die Geheimnisse hatte, und sie wollte sie nicht teilen.

Die Tür im vorgelagerten Zimmer knarrte, als sie weiter geöffnet wurde.

Die Augen der Frau wurden groß, dann blickte sie sich wild verzweifelt um und warf sich in ihrer Hast, sich zu verstecken, über das Sofa, landete inmitten ihrer Röcke würdelos auf dem Boden, keine zwei Fuß von ihm entfernt. Auch da sah sie Robert noch nicht. Sie rollte sich zu einem Ball zusammen, zerrte ihre Röcke hinter die Sofalehne, atmete flach und schnell.

Gut, dass er das Sofa vorhin ein Stück von der Wand abgerückt hatte. Anderenfalls hätte sie keine Chance gehabt, ihre Röcke dahinter zu verstecken.

Ihre Faust umklammerte immer noch die Schachfigur; sie schob sie mit einer ruckartigen Handbewegung unters Sofa.

Dieses Mal kamen schwerere Schritte in den Raum.

„Minnie?“, rief eine Männerstimme. „Miss Pursling? Sind Sie hier?“

Sie rümpfte die Nase und presste sich rückwärts gegen die Wand. Aber sie antwortete nicht.

„Himmel, Mann.“ Eine weitere Stimme, die Robert nicht wiedererkannte – jung und mit der undeutlichen Aussprache eines Betrunkenen. „Um die beneide ich dich wahrlich nicht.“

„Sprich nicht schlecht von meiner zukünftigen Verlobten“, verlangte die erste Stimme. „Du weißt doch, dass sie perfekt für mich ist.“

„Die furchtsame kleine Maus?“

„Sie wird mir den Haushalt tadellos führen. Sie kümmert sich um meine Bequemlichkeit. Sie wird die Kinder versorgen, und sie wird sich nicht wegen meiner Mätressen beschweren.“ Man hörte Türangeln quietschen – das unmissverständliche Geräusch beim Öffnen der Glastüren vor den Bücherregalen.

„Was tust du da, Gardley?“, wollte der Betrunkene wissen. „Suchst du nach ihr unter den deutschsprachigen Büchern? Ich denke nicht, dass sie dort hinein passt.“ Das Letzte begleitete ein hässliches Lachen.

Gardley. Das konnte unmöglich der ältere Mr. Gardley sein, der Besitzer einer Schnapsbrennerei – nicht unter Berücksichtigung der jugendlichen Stimme. Es musste sich also um Mr. Gardley den Jüngeren handeln. Robert hatte ihn nur aus einiger Entfernung gesehen – ein wenig bemerkenswerter junger Mann mittlerer Körpergröße, mit mittelbraunem Haar und Gesichtszügen, die ihn schwach an ungefähr fünf andere Leute erinnerten.

„Ganz im Gegenteil“, erwiderte der Angesprochene. „Ich denke, sie wird ausgezeichnet passen. Was Ehefrauen angeht, wird Miss Pursling genau wie diese Bücher sein. Wenn ich sie hervorholen und lesen will, wird sie da sein. Wenn ich das nicht will, wird sie geduldig warten, genau dort, wo ich sie gelassen habe. Sie wird mir eine angenehme Ehefrau sein, Ames. Außerdem mag meine Mutter sie.“

Robert konnte sich nicht erinnern, einen Ames getroffen zu haben. Er zuckte die Achseln und blickte hinab auf – das vermutete er wenigstens – Miss Pursling, um zu sehen, wie sie diese Äußerungen aufnahm.

Sie wirkte weder überrascht noch schockiert über die unromantischen Enthüllungen ihres Beinahe-Verlobten. Stattdessen machte sie eher einen resignierten Eindruck.

„Du wirst mit ihr ins Bett müssen, weißt du“, sagte Ames.

„Stimmt. Aber, dem Himmel sei Dank, nicht sonderlich oft.“

„Sie ist wie eine Maus. Und wie alle Mäuse wird sie wahrscheinlich quieken, wenn sie die Schlange sieht.“

Ein dumpfer Schlag war zu hören.

„Was?“, jaulte Ames auf.

„Das“, verkündete Gardley, „ist für meine zukünftige Gattin gewesen, über die du da sprichst.“

Vielleicht war der Kerl doch nicht so schlecht.

Dann sprach er jedoch weiter: „Ich bin der Einzige, der daran zu denken hat, dieser Maus seine Schlange zu zeigen.“

Miss Pursling presste die Lippen zusammen und hob die Augen gen Himmel, als erflehe sie Beistand von oben. Und wenn sie empor sah, würde sie durch den Spalt in den Vorhängen …

Ihr Blick traf Roberts. Ihre Augen wurden groß und rund. Sie schrie nicht, sie schnappte nicht nach Luft. Sie zuckte mit keiner Wimper. Sie schaute ihn einfach an, stumm, vorwurfsvoll und erbost. Ihre Nasenflügel bebten.

Robert blieb nichts anderes übrig, als seine Hand zu heben und ihr zuzuwinken.

Sie nahm ihre Brille ab und wandte sich mit hochmütiger Verachtung ab, sodass er zweimal hinsehen musste, um sich zu vergewissern, dass sie tatsächlich inmitten ihrer Röcke zu seinen Füßen saß. Dass er aus diesem ungünstigen Winkel oberhalb von ihr geradewegs in ihren Ausschnitt sehen konnte – genau auf den Teil ihrer Figur, der ihm nicht streng erschien, sondern weich und …

Heb dir das für später auf, mahnte er sich und hob seinen Blick ein paar Zoll. Weil sie sich abgewandt hatte, sah er zum ersten Mal die blasse Narbe auf ihrer Wange, ein wirres Spinnennetz feiner sich kreuzender Linien.

„Wo auch immer deine Maus hin entschwunden ist, hier ist sie jedenfalls nicht“, sagte Ames gerade. „Sie ist vermutlich im Erfrischungsraum für die Damen. Ich sage, wir gehen zurück und gönnen uns wieder etwas Spaß. Du kannst deiner Mutter immer noch sagen, du habest in der Bibliothek einen Wortwechsel mit ihr gehabt.“

„Stimmt“, bemerkte Gardley. „Und ich muss ja nicht eigens erwähnen, dass sie nicht anwesend war – und schließlich ist es ja auch nicht so, als hätte sie etwas als Antwort darauf zu erwidern gehabt, wäre sie da gewesen.“

Schritte verklangen; die Tür knarrte erneut, dann waren die Männer fort.

Miss Pursling würdigte Robert keines Blickes, nachdem sie gegangen waren, nahm seine Gegenwart noch nicht einmal mit einem finsteren Stirnrunzeln zur Kenntnis. Stattdessen erhob sie sich auf die Knie, ballte eine Hand zur Faust und schlug damit gegen die Rückenlehne des Sofas – einmal, dann zweimal, so fest, dass es unter der Wucht ihres Schlages nach vorne rutschte – die ganzen hundert Pfund.

Er fing ihre Hand ab, bevor sie ein drittes Mal zuschlagen konnte. „Ruhig, ruhig“, sagte er. „Sie wollen sich gewiss nicht seinetwegen wehtun. Das verdient er nicht.“

Sie starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an.

Er konnte nicht begreifen, wie irgendjemand diese Frau schüchtern nennen konnte. Sie knisterte förmlich vor Erbitterung. Er ließ ihren Arm los, ehe der Zorn in ihr auf seine Hand überspringen konnte und ihn verzehren. Er hatte selbst genug Zorn in sich.

„Achten Sie nicht weiter auf mich“, sagte sie. „Offensichtlich bin ich nicht imstande, mir selbst zu helfen.“

Beinahe wäre er zurückgesprungen. Er war sich nicht sicher, was er erwartet hatte, wie ihre Stimme klingen würde – scharf und streng, wie es ihr Aussehen vermuten ließ? Vielleicht hatte er sich vorgestellt, sie würde mit einem hohen Quietschen sprechen, als sei sie die Maus, die man sie genannt hatte. Aber ihre Stimme war warm und sehr sinnlich. Es war die Sorte Stimme, die ihn jäh daran erinnerte, dass sie vor ihm kniete, ihr Kopf in etwa in Höhe seines Geschlechts war.

Das besser auch erst später.

„Ich bin eine Maus. Alle Mäuse quietschen, wenn sie eine Schlange sehen.“ Sie schlug noch einmal gegen das Sofa. Sie würde sich noch die Knöchel wundschlagen, wenn sie so weitermachte. „Haben Sie vielleicht vor, mir Ihre Schlange zeigen?“

„Nein.“ Verirrte Gedanken zählten nicht, dem Himmel sei Dank. Wenn sie das täten, würden alle Männer auf ewig in der Hölle schmoren.

„Verstecken Sie sich eigentlich immer hinter irgendwelchen Vorhängen in der Hoffnung, vertrauliche Unterhaltungen zu belauschen?“

Robert spürte, wie die Spitzen seiner Ohren ganz heiß wurden. „Springen Sie immer hinter Sofas, wenn Sie Ihren Verlobten kommen hören?“

„Ja“, erwiderte sie trotzig. „Haben Sie es nicht mitangehört? Ich bin wie ein Buch, das verlegt worden ist. Eines Tages mitten im Frühjahrsputz wird mich einer seiner Dienstboten staubbedeckt finden. ‚Ach‘, wird der Butler sagen, ‚Da also ist Miss Wilhelmina gelandet. Ich hatte sie völlig vergessen.‘“

Wilhelmina Pursling? Was für ein schrecklicher Name.

Sie holte tief Luft. „Bitte erzählen Sie niemandem davon. Von nichts, was hier geschehen ist.“ Sie schloss die Augen und drückte mit den Fingern dagegen. „Bitte, gehen Sie einfach, wer immer Sie auch sind.“

Er schob die Vorhänge auf eine Seite und ging um das Sofa herum. Aus ein paar Fuß Entfernung konnte er sie nicht mehr sehen. Er konnte sie sich nur vorstellen, zusammengerollt und so wütend, dass ihr die Tränen in die Augen traten.

„Minnie“, sagte er. Es war nicht höflich, sie so vertraulich anzureden. Aber er wollte ihren Namen aussprechen, ihn in den Mund nehmen.

Sie antwortete nicht.

„Ich werde Ihnen zwanzig Minuten geben“, erklärte er. „Wenn ich Sie bis dahin nicht unten sehe, komme ich hoch und hole Sie.“

Ein paar Minuten lang erhielt er keine Antwort, dann kam: „Das Schöne an der Ehe ist das Recht auf Monogamie. Ein Mann, der mir vorschreibt, wo ich zu sein habe, reicht doch vollkommen, oder?"

Er starrte verwirrt auf das Sofa, ehe er erkannte, dass sie dachte, er habe ihr gedroht, sie hervorzuziehen.

Robert war gut in vielen Dingen. Mit Frauen zu reden, gehörte leider nicht dazu.

„Das habe ich nicht gemeint“, entgegnete er. „Es ist nur …“ Er ging zurück zum Sofa und spähte über die Lehne. „Wenn eine Frau, an der mir etwas liegt, sich hinter einem Sofa versteckt, dann würde ich mir wünschen, dass jemand sich die Zeit nehmen würde, sich zu vergewissern, dass es ihr gut geht.“

Es entstand eine lange Pause. Der Stoff raschelte, und sie schaute zu ihm empor. Ihr Haar hatte begonnen, sich aus dem Knoten hinten zu lösen; es hing um ihr Gesicht, ließ ihre Züge weicher aussehen und betonte die helle Narbe. Nicht unbedingt hübsch, aber … interessant. Und er hätte ihr die ganze Nacht beim Reden zuhören mögen.

Sie starrte ihn verwundert an. „Oh“, sagte sie ausdruckslos. „Sie versuchen, nett zu sein.“ Das klang, als sei ihr die Möglichkeit vorher nicht eingefallen. Sie stieß einen Seufzer aus und schüttelte den Kopf. „Aber Ihre Freundlichkeit ist fehlgeleitet. Sehen Sie, das“ – sie deutete auf die Türöffnung, durch die ihr möglicher Verlobter verschwunden war – „das da ist die bestmögliche Zukunft, die ich mir erhoffen darf. So etwas habe ich mir seit Jahren gewünscht. Sobald ich den Gedanken verkraften kann, werde ich ihn heiraten.“

In ihrer Stimme schwang kein Sarkasmus mit. Sie stand auf. Mit geübter Hand strich sie sich ihr Haar glatt und steckte es wieder fest, schüttelte ihre Röcke aus und glättete sie, bis sie wieder ein Bild des Anstands bot.

Erst dann bückte sie sich, tastete unter dem Sofa nach dem Springer, den sie vorhin darunter geschubst hatte. Sie musterte das Schachbrett, legte den Kopf schief und stellte die Figur dann wieder an exakt die richtige Stelle.

Während er noch da stand und sie beobachtete, versuchte, sich einen Reim auf ihre Worte zu machen, ging sie zur Tür hinaus.

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MINNIE STIEG DIE TREPPE HINAB, die von der Bibliothek in den dunklen Hof vor dem Versammlungssaal führte, und ihr Puls klopfte immer noch heftig. Einen Augenblick lang hatte sie befürchtet, er würde sie gleich ausfragen. Aber nein, sie war entkommen, ohne dass ihr irgendwelche Fragen gestellt worden waren. Alles war exakt so, wie es immer war: ruhig und endlos stumpfsinnig. So, wie sie es brauchte. Dann hatte sie nichts zu befürchten.

Die leisen Klänge des Konzerts, uninspiriert und gleichgültig von einem Streicherquartett vorgetragen, waren auf dem Hof kaum noch zu hören. Dunkelheit tauchte den zur einen Seite offenen Hof in Grautöne. Nicht dass am Tag viele verschiedene Farben zu sehen gewesen wären: nur das Blaugrau des Schiefers, mit dem der Hof gepflastert war, und die alten Fachwerkmauern. Hartnäckig wuchs Unkraut in den Ritzen zwischen den Steinplatten, aber inzwischen war es graubraun und welk. In der gnadenlosen Dunkelheit der Nacht besaßen die Pflanzen fast gar keine Farbe. Ein paar Personen, nicht mehr als dunkle Umrisse, standen an der Tür zum Saal, Punschgläser in der Hand. Alles war gedämpft hier draußen – die Sicht, die Gerüche und die aufgewühlten Gefühle in Minnie.

Der Musikabend hatte eine erstaunliche Anzahl Leute angelockt. Genug, dass der Große Saal des alten Zunfthauses gedrängt voll war. Alle Sitzplätze waren belegt, und weitere Gäste standen am Rand. Seltsam, dass schlecht vorgetragener Beethoven so viele Menschen angezogen hatte, aber die Massen waren herbeigeströmt. Ein Blick auf das Gedränge, und Minnie hatte sich zurückgezogen. Ihr Magen hatte sich verkrampft. Sie konnte einfach nicht diesen Raum betreten.

Vielleicht sollte sie Unwohlsein vortäuschen.

Und ehrlich gesagt würde sie gar nichts vortäuschen müssen.

Aber …

Hinter ihnen öffnete sich eine Tür. „Miss Pursling. Da sind Sie ja.“

Minnie zuckte beim Klang der Stimme zusammen und drehte sich rasch um.

Das Zunfthaus von Leicester war ein altes Gebäude – eines der wenigen Fachwerkhäuser, das nicht dem einen oder anderen Feuer zum Opfer gefallen war. Über die Jahrhunderte hatte es verschiedenste Nutzungen erfahren. Es war eine Versammlungshalle für Veranstaltungen wie die heute Abend, ein Anhörungsraum für den Bürgermeister und die Ratsherren und Aufbewahrungsort für die wenigen zeremoniellen Kleinodien der Stadt. Einer der Räume war zu einer Haftzelle für Gefangene umgewidmet worden, und die eine Seite des Hofes bestand aus unverputzten Ziegeln, hinter denen sich die Dienstwohnung des Polizeipräfekten verbarg.

Heute jedoch wurde der Saal genutzt – was der Grund war, weswegen sie niemanden aus dem Rathaus hier zu sehen erwartet hatte.

Eine gedrungene Männergestalt näherte sich mit entschlossenen raschen Schritten. „Lydia sucht Sie seit mindestens einer halben Stunde. Und ich ebenfalls.“

Minnie atmete erleichtert auf. George Stevens war ein anständiger Kerl. Besser als die beiden Flegel, denen sie eben so knapp entwischt war. Er war Hauptmann der Stadtwache und der Verlobte ihrer besten Freundin.

„Captain Stevens. Da drinnen ist es so überfüllt. Ich musste einfach herauskommen und etwas frische Luft schnappen.“

„Allerdings.“ Er kam zu ihr. Zuerst war er nicht mehr als ein Schatten. Dann war er so nahe, dass sie auch ohne ihre Brille Einzelheiten erkennen konnte, bis schließlich seine vertrauten Züge klar zu sehen waren: ein freundlicher Schnurrbart, buschige Koteletten.

„Sie mögen keine Menschenansammlungen, nicht wahr?“ Sein Tonfall war fürsorglich.

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Ich habe mich darin noch nie wohlgefühlt.“ Das stimmte nicht; früher hatte es ihr nie etwas ausgemacht. Sie hatte eine vage Erinnerung an eine Gruppe Männer, die sie umringten, ihren Namen riefen, mit ihr sprechen wollten. Damals hatte es nichts mit Koketterie zu tun gehabt – sie war acht Jahre alt gewesen und zudem wie ein Junge gekleidet – aber es hatte eine Zeit gegeben, als die Energie einer Menschenmenge sie beflügelt hatte, statt ihr den Magen umzudrehen.

Captain Stevens stellte sich neben sie.

„Ich mag auch keine Himbeeren“, gestand Minnie. „Davon kratzt mir der Hals.“

Aber er schaute auf sie herab, und die Enden seines Schnurrbarts bogen sich unter dem Gewicht seines Stirnrunzelns. Er rieb sich die Augen, als sei er sich nicht sicher, was er sah.

„Kommen Sie“, sagte Minnie mit einem Lächeln. „Sie kennen mich schon Jahre, und in der ganzen Zeit mochte ich keine Menschenansammlungen.“

„Nein“, pflichtete er ihr nachdenklich bei. „Aber sehen Sie, Miss Pursling, ich war letzte Woche zufällig geschäftlich in Manchester.“

Lass dir keine Reaktion anmerken. Der Instinkt war tief verwurzelt. Minnie setzte ein ungezwungenes Lächeln auf und achtete darauf, sich weiter die Röcke glatt zu streichen und nicht vor Schreck zu erstarren. Aber in ihren Ohren war ein lautes Rauschen, und ihr Herz begann viel zu schnell zu klopfen.

„Oh“, hörte sie sich sagen. Ihre Stimme klang für sie selbst zu fröhlich und gleichzeitig zu spröde. „Meine alte Heimat. Es ist so lange her. Wie sind Sie darauf gekommen?“

„Ich fand es seltsam.“ Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu. „Ich habe die Gegend besucht, aus der Ihre Großtante Caroline stammt. Ich hatte vor, nur höfliche Konversation zu machen und vielleicht den Leuten, die sich an Sie als Kind erinnern, Neuigkeiten von Ihnen zu überbringen. Aber niemand konnte sich daran erinnern, dass Carolines Schwester geheiratet hatte. Und als ich nachschaute, gab es keinen Hinweis auf Ihre Geburt im Kirchenregister.“

„Wie merkwürdig.“ Minnie starrte auf die Pflastersteine. „Ich weiß nicht, wo meine Geburt eingetragen wurde. Da werden Sie Großtante Caroline fragen müssen.“

„Niemand hatte je von Ihnen gehört. Sie haben doch in der gleichen Nachbarschaft gelebt wie Ihre Großtante, oder?“

Der Wind fegte mit einem traurigen zweitönigen Pfeifen über den Hof. Minnies Herz trommelte den Takt dazu. Nicht jetzt. Nicht jetzt. Bitte zerbrich nicht jetzt.

„Ich habe noch nie große Menschenmengen gemocht“, hörte sie sich sagen. „Schon damals nicht. Ich war alles andere als weithin bekannt.“

„Hm.“

„Zudem war ich ja noch ganz jung, als ich fortzog, dass ich fürchte, ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen. Ich kann mich kaum an Manchester erinnern. Großtante Caroline andererseits …“

„Aber es ist nicht Ihre Großtante, die mir Sorgen macht“, erwiderte er langsam. „Sie wissen, dass den öffentlichen Frieden aufrechtzuerhalten ein Teil meiner Pflichten ist.“

Stevens war immer schon ein nüchterner Kerl gewesen. Auch wenn die Stadtwache letztes Jahr nur einmal gerufen worden war – und dann, um bei der Bekämpfung eines Feuers zu helfen – nahm er seine Aufgabe sehr ernst.

Sie musste nicht länger Verwirrung heucheln. „Das verstehe ich nicht. Was hat das alles mit dem öffentlichen Frieden zu tun?“

„Die Zeiten sind gefährlich“, verkündete er. „Man bedenke, ich gehörte zu der Miliz, die 1842 die Chartist-Demonstration niedergeschlagen hat, und ich habe nie vergessen, wie damals alles angefangen hat.“

„Das hat immer noch nichts mit mir …“

„Ich erinnere mich an die Tage, bevor der Aufstand gewaltsam wurde“, fuhr er kühl fort. „Ich weiß, wie es anfängt. Es fängt an, wenn jemand den Arbeitern einredet, dass sie eine eigene Stimme haben sollten, statt zu tun, was man ihnen aufgetragen hat. Versammlungen, Reden, Flugblätter. Ich habe gehört, was Sie als Mitglied des Arbeitergesundheitsvereins gesagt haben, Miss Pursling. Und es gefällt mir nicht, es gefällt mir kein bisschen.“

Seine Stimme war ganz kalt geworden, und ein kleiner Schauer überlief Minnie. „Aber, alles, was ich gesagt habe …“

„Ich weiß, was Sie gesagt haben. Zu der Zeit habe ich es als bloße Naivität abgetan. Jetzt jedoch kenne ich die Wahrheit. Sie sind nicht, wer Sie zu sein behaupten. Sie lügen.“

Ihr Herz begann schneller und härter zu klopfen. Sie schaute nach links zu dem kleinen Grüppchen an der Tür, keine zehn Fuß entfernt. Eines der Mädchen trank Punsch und kicherte. Ganz sicher würden sie, wenn sie schrie …

Aber Schreien würde zu nichts führen. So unmöglich es auch schien, jemand hatte die Wahrheit entdeckt.

„Ich kann mir nicht sicher sein“, sagte er, „aber ich weiß einfach, dass etwas nicht in Ordnung ist. Sie haben hiermit zu tun.“ Damit zog er ein Blatt Papier hervor und hielt es ihr unter die Nase.

Sie nahm es fast automatisch und drehte sich so, dass das Licht aus den Fenstern darauf fiel. Eine Sekunde lang fragte sie sich, was sie da in der Hand hatte – einen Zeitungsartikel? Es hatte genug davon gegeben, aber das Papier fühlte sich anders an. Vielleicht war es ihre Geburtsurkunde? Das wäre schlimm genug. Sie holte ihre Brille aus der Rocktasche.

Als sie es schließlich lesen konnte, hätte sie fast erleichtert aufgelacht. Angesichts all der Anschuldigungen, mit denen er sie überhäufen könnte – all der Lügen, die sie erzählt hatte, mit ihrem Namen angefangen – glaubte er, sie habe hiermit zu tun? Stevens hatte ihr ein Flugblatt gegeben, von der Sorte, die vor den Fabriktoren auftauchten, an die Wände geschlagen wurden oder an Kirchentüren.

ARBEITER, stand da in der Überschrift in fetten Großbuchstaben. Und darunter: VEREINIGT EUCH, VEREINIGT EUCH!!!! VEREINIGT EUCH!!!!

„Oh nein“, widersprach sie. „Das hier habe ich nie zuvor gesehen. Und so etwas liegt mir so auch gar nicht.“ Zudem war sie davon überzeugt, dass jeder Satz, der mehr Ausrufezeichen hatte als Worte, eine Abscheulichkeit war.

„Sie sind überall in der ganzen Stadt“, brummte er. „Irgendjemand ist dafür verantwortlich.“ Er hielt einen Finger in die Höhe. „Sie haben sich freiwillig gemeldet, die Flugblätter für den Arbeitergesundheitsverein zu entwerfen. Das hat Ihnen einen Vorwand geliefert, jede Druckerei der Stadt aufzusuchen."

„Aber …“

Er hielt einen zweiten Finger in die Höhe. „Sie haben überhaupt erst vorgeschlagen, dass auch die Arbeiter in dem Verein sind.“

„Ich habe doch nur gesagt, dass es sinnvoll sei, die Arbeiter zu fragen, ob sie Zugang zu Wasserpumpen haben! Wenn wir sie das nicht gefragt hätten, hätten wir uns die ganze Arbeit gemacht, ohne dass es etwas an ihrer Lage geändert hätte. Es ist ein langer Weg von da zu dem Aufruf an sie, dass sie sich vereinigen sollen.“

Ein dritter Finger. „Ihre Großtanten sind in dieser schrecklichen Lebensmittelgenossenschaft. Ich weiß zufällig, dass Sie bei der Organisation eine führende Rolle gespielt haben.“

„Ein Geschäft! Was ändert es, wo wir unseren Kohl verkaufen?“

Stevens deutete mit allen drei Fingern auf sie. „Da wird ein Muster erkennbar. Sie haben Mitleid mit den Arbeitern, und Sie behaupten, jemand zu sein, der Sie nicht sind. Jemand hilft Ihnen, diese Flugblätter zu drucken. Sie müssen mich für dumm halten, sie auch noch so zu unterzeichnen!“ Er zeigte unten auf das Flugblatt. Da stand ein Name. Sie betrachtete ihn durch ihre Brille.

Kein Name. Ein Pseudonym.

De minimis, las sie. Sie hatte nie Latein gelernt, aber sie konnte ein wenig Italienisch und eine Menge Französisch, und sie meinte, es hieße so etwas wie unbedeutend oder Kleinigkeiten. Etwas Unwichtiges.

„Das verstehe ich nicht.“ Sie schüttelte verständnislos den Kopf. „Was hat das mit mir zu tun?“

„De. Minnie. Mis.“ Er sprach die Silben getrennt, sodass sie auf perfide Weise wie ihr Name klangen. „Sie müssen mich für einen Dummkopf halten, Miss Minnie.

Auf schreckliche Weise schien es logisch, so verdreht, dass sie fast laut aufgelacht hätte. Außer, dass die Konsequenzen dieses Scherzes nicht im Geringsten amüsant waren.

„Ich habe keine Beweise“, fuhr er fort, „und da Ihre Freundschaft mit meiner zukünftigen Braut allgemein bekannt ist, habe ich nicht den Wunsch, Sie öffentlich bloßgestellt oder wegen Volksverhetzung angezeigt zu sehen.“

„Volksverhetzung!“, wiederholte sie ungläubig.

„Daher betrachten Sie dies als Warnung. Wenn Sie hiermit weitermachen“ – er schnippte mit dem Finger gegen das Blatt in ihrer Hand – „dann werde ich die Wahrheit hinter Ihrer Herkunft aufdecken. Ich werde beweisen, dass Sie hinter dem hier stecken. Und ich werde Sie ruinieren.“

„Ich habe nicht das Geringste damit zu tun!“, protestierte sie, aber vergebens, denn er wandte sich bereits ab.

Sie zerknüllte das Flugblatt in ihrer Hand. Was für eine katastrophale Entwicklung. Stevens ging von völlig falschen Voraussetzungen aus, aber es war unerheblich, wie er auf die Spur kam. Wenn er der folgte, würde er alles herausfinden. Minnies Vergangenheit. Ihren wahren Namen. Und vor allem ihre Vergehen – lange zurückliegend, vergraben, aber nicht tot.

De minimis.

Zwischen Ruin und Sicherheit lag nur eine Kleinigkeit. Eine winzige Kleinigkeit, aber sie würde sie nicht aus den Augen verlieren.

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